Ich kann es fast körperlich fühlen, wie sie es gehasst haben muss. Jeden Morgen raus, die Glastür dieses Apartmenthauses aufstoßen, die drei Treppen aus dem Souterrain hinauf laufen auf die Straße. Dann den langen Weg hinunter zur Subway, Linie 7, hier reingequetscht zwischen all die Leute, die sich dicht drängten, um sich in dem engen Waggon hinüberschaukeln zu lassen nach Manhattan, zum Arbeiten.
Meine Oma war gerade mal Mitte zwanzig, als sie für ein Jahr in New York lebte. Es waren die frühen Sechziger, und die lebenslustige junge Frau war ihrem Mann gefolgt, einem deutschen Architekten, der bei einer New Yorker Baufirma angestellt war. Hatte ihn geheiratet, ihm versprochen, mit ihm nach Amerika zu gehen – in guten wie in schlechten Zeiten. Wir kennen das ja.
Und nun war sie eben hier. In New York. Und in für sie definitiv einer dieser schlechteren Zeiten.
Können wir uns ja heute gar nicht mehr vorstellen, wir, die wir diese Stadt so anziehend und prickelnd und überwältigend finden (nun, nicht alle von uns, aber doch ein großer Teil der Urbanisten). Aber damals, in den Sechzigern, da sehnte sich dieses junge Ehepaar eben nicht nach Thrill und Spannung, sondern nach ruhigem Beisammensein, nach einem Heim, einem komfortablen Rückzugsort. Peter, Omis Mann, meinte, dies hier gefunden zu haben: in Flushing, Queens.
Manhattan – zu laut, zu gefährlich, zu monströs für seine Frau, so entschied er. In Flushing dagegen gab es noch ordentliche Wohngebiete, in hübschen Backsteinhäusern war man gefeit vor den Umtrieben der Großstadt, hier war es ruhig und lauschig, konnte das Familienleben beginnen.
Doch Omi fuhr dennoch täglich rüber auf die Inselmetropole. Sie wollte arbeiten, vor allem, um dabei ordentlich Englisch zu lernen, und in Manhattan hatte sie eine Stelle in einer Krankenhausapotheke gefunden. Und so verließ sie jeden Morgen gegen acht das Haus an der Barcley Avenue, schick gekleidet, auf stöckeligen Schuhen, bog nach links, runter zur Browne Street, zur Union Street, vorbei an der John-Browne-Grundschule und an der St.-Michaels-Kirche, und schließlich bis zur Main Street, wo die Subway-Linie 7 hält. Oder besser: endet. Von Manhattan aus kommt nach dieser Station nichts mehr, wer weiter will mit dem öffentlichen Nahverkehr, raus nach Long Island zum Beispiel, muss auf den Zug umsteigen. Flushing ist äußerste New Yorker Peripherie, daran hat sich bis heute kaum etwas geändert.
Nun bin ich meiner Oma ja oft nah, auch über weiteste Entfernungen, in Gedanken, in Erinnerungen. Aber selten war ich ihr so nah wie heute.
Ich sitze in der Linie 7 und fahre bis zur Endstation, Main Street. Sobald ich die Treppe aus dem Untergrund hinaufsteige, versuche ich, die Gegend mit ihren Augen zu sehen. Versuche, die ganzen chinesischen Schriftzeichen zu ignorieren (was nicht einfach ist, sie kreischen einem förmlich entgegen) und durch die vielen asiatischen Menschen hindurch zu blicken. Die wohnten damals alle noch nicht hier, die gehören nicht in das Bild, das ich versuche, herauf zu beschwören.
Ich laufe vorsichtig die Route ab, von der ich glaube, dass sie mich zu Omis ehemaligen Wohnhaus führt. Dokumentiere meinen Weg, mache Fotos. Versuche, zu erkennen, ob dieses oder jenes Haus damals schon dort gestanden haben könnte. Und ob die Gegend, so wie sie heute ist, Omi erschrecken, gar abschrecken würde.
Immerhin: An einer Ecke, nahe der Barcley Avenue, bieten sie groß und plakativ Luxusapartments an, es ist also immer noch (oder wird wieder?) eine gute Gegend hier. Wäre nach Omis Geschmack. Ich beobachte eine junge Asiatin, die einen kleinen Maltipu spazieren führt, einen dieser Malteser-Pudel-Mischlingshunde, wie es sie jetzt immer öfter gibt und wie auch meine Tante Anne, Omis Schwiegertochter, einen besitzt. Auch dieser Anblick hätte Hundenärrin Omi gefallen. Sie hätte die Frau in ein Gespräch verwickelt, das kleine Tier gestreichelt, „na, mein Baby, na, du Süßer“, ja, das wäre eine Begegnung nach ihrem Gusto gewesen. Und dann: der riesige, unüberschaubare asiatische Gemüsemarkt an der Ecke. Reife Mangos, junge Kokosnüsse, frischester Sellerie. Omis – heutiges – Rohköstlerherz wäre in die Luft gehüpft.
Omis Herz von damals jedoch wog schwer. Dieses New York. Hach. So gar nicht ihr Ding. Viel zu laut und dreckig und zu eng bebaut.
Ich werde immer aufgeregter, je näher ich ihrer Straße komme. Wenn ich es mir recht überlege, stalke ich gerade meine eigene Großmutter. Gut, haben wir das auch mal gehabt.
Als ich um die Ecke in die Barclay Avenue einbiege, schlägt mein Herz schneller. Hier ist es gleich. Google Maps lügt nicht. Genau, da, die Hausnummer habe ich gesucht! Das ist es! Das ist die ehemalige Bleibe meiner Oma! Und plötzlich kommen mir die Tränen.
Ach, Omi.
Ich stehe vor diesem kalten Backsteingebäude, und sehe sie, die damals jünger war, als ich es heute bin, sie, die ihrem frisch angetrauten Ehemann, den sie doch eigentlich kaum kennt, dem sie doch vor wenigen Monaten erst über eine Heiratsanzeige begegnet ist, hierher gefolgt ist, in blindem Vertrauen, er würde schon gut für sie sorgen. Wie mutig war das, wie pragmatisch, vieleicht auch: wie schicksalsergeben. Ob sie es manchmal, in diesen trüben, schwierigen New Yorker Tagen, als sie keinen Menschen kannte, die Sprache nicht beherrschte, herumschlingerte in einer fremden Welt, ob sie es damals also bereut hat? Fernweh hatte nach West-Berlin oder gar nach ihrem Geburtsort in Sachsen? In Gedanken schon dreimal wieder die Koffer gepackt hat, um doch schnell, ganz schnell wieder zurück zu fliegen, weg aus dieser kalten, lauten Stadt, aus diesem angsteinflößenden Amerika, diesem fremden Leben?
Gehalten haben wird sie sicher die Liebe zu ihrem Mann, denn die war da und stark und intensiv, so kurz die beiden sich auch erst kannten. Und hier hatte sie natürlich ein Auskommen, lebte in finanzieller Sicherheit. Deutschland? Nein, Deutschland war keine Option mehr.
Sie sollte nur ein Jahr hier aushalten müssen, dann schickte Peters Arbeitgeber die beiden weiter. Es folgten Stationen in Montana, in Texas und in Georgia. Es dauerte noch eine kleine Weile, aber bald begann Omi, Amerika zu lieben, sich hier heimisch zu fühlen.
Nur in dieses New York, in dieses Monstrum, in diese stadtgewordene Kälte – hat meine Oma nie wieder einen Fuß gesetzt.
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